Ich bin keine Anwältin. Auch meine Kolleg*innen vor Ort sind keine Anwält*nnen. Aber wir sind hier in Oerlinghausen die Einzigen, die erklären können, was es mit den nahezu unverständlichen Schreiben, mit denen Geflüchtete im Asylverfahren überschwemmt werden, auf sich hat. Ich möchte Sie nun einmal einladen, sich in Ihrer Vorstellung in die Situation eines geflüchteten Menschen im Asylverfahren zu begeben.

Stellen Sie sich vor, Sie würden Asyl in einem anderen Land suchen. Sie sind im sog. „beschleunigten Verfahren“ an einem Tag registriert worden, dann kam das „Dublin Interview“ (kann nicht ein anderes EU-Land ihr Asylverfahren prüfen?) und gleich im Anschluss die Anhörung zu ihren Fluchtgründen. Am gleichen Tag erhalten Sie schon einmal eine Infobroschüre über die freiwillige Rückkehr, in der Ihnen eine bestimmte Summe angeboten wird, sofern Sie sich entscheiden, freiwillig in das Land zurückzugehen, aus dem Sie gerade geflohen sind. Was an diesem Tag genau passiert ist, können Sie gar nicht genau nachvollziehen. Wurde ich abgelehnt? Warum werde ich gefragt, ob ich Gründe habe, die gegen eine Überstellung in ein anderes EU Land sprechen? Kann ich jetzt hierbleiben? Werde ich abgeschoben? Sicher hätten auch Sie in einer solchen Situation große Sehnsucht nach einem Anwalt.

Es ist fast ein halbes Jahr vergangen, da steht eines Tages Ihr Name auf einer Liste. Ein Gesprächstermin mit der Ausländerbehörde. Sie gehen hin. „Wollen Sie freiwillig gehen oder wollen Sie nachts mit der Polizei aus dem Zimmer geholt werden?“ „Wie bitte?“ Sie dachten, Sie würden einen Brief bekommen. Eine schriftliche Entscheidung zu Ihrem Asylverfahren mit Klagefristen. „Ich habe doch noch gar keine Entscheidung!“ „Doch, Sie wurden abgelehnt. Die Klagefrist ist längst vorbei. Was ist jetzt?“ So kann es Ihnen als BewohnerIn einer Flüchtlingseinrichtung gehen, in denen die Postzustellung nicht transparent ist oder man Sie nicht rechtzeitig angetroffen hat.

Wie es dazu kam, dass Sie schließlich für die freiwillige Ausreise unterschrieben haben, ist schwer zu rekonstruieren. Vielleicht war Ihnen alles einfach zu viel. Vielleicht war der Schock einfach zu groß und die Situation schien ausweglos, ein Aufbegehren sinnlos. Sie haben unterschrieben. Am Freitag soll ihr Flugzeug starten, mit dem Sie wieder dorthin zurückfliegen, wo Sie am wenigsten sein wollen. Sie haben alles riskiert und so viele Opfer gebracht, um hierher zu kommen.

Sie entscheiden daher, dass Sie zum Abreisezeitpunkt der „freiwilligen“ Ausreise nicht erscheinen werden. Sie wollen Ihre Entscheidung schriftlich in den Händen halten. Sie wollen einen Anwalt die Entscheidung prüfen lassen. Sie können das nicht so hinnehmen. Sie erscheinen nicht zum Abreisetermin. Vorher hatten Sie 30 Euro in der Woche als Taschengeld. Seitdem der Abreisetermin verstrichen ist, bekommen Sie kein Geld mehr. Nicht einen Euro.

Aber auch in Fällen, in denen die Postzustellung des Asylbescheids normal verläuft, stehen Geflüchtete Menschen vor großen Hürden beim Rechtszugang. Stellen Sie sich auch diese Sutuation einmal vor: Sie kommen mit einem negativen Bescheid in unsere Beratung und wir versuchen, eineN AnwältIn für sie zu finden.  Doch es gibt viele Gründe, weshalb das nicht gelingt. Die meisten AnwältInnen nehmen eine Anzahlung von 200€ und mehr. Das bedeutet für Sie acht Wochen des Sparens. Nun endlich können Sie einen Anwaltstermin machen, doch ist aktuell mit mehrmonatigen Wartezeiten zu rechnen – und dabei läuft die Klagefrist gegen Ihren Asylentscheid doch schon in zwei Wochen ab. Von Ihren Bekannten haben Sie gehört, dass bestimmte Länder (Westbalkan, Indien…) ohnehin wegen zu großer Arbeitsbelastung von Anwälten und Anwältinnen – oft ohne die Hintergründe der Fluchtgeschichte zu kennen – abgelehnt werden. Sollte es Ihnen doch gelingen, rechtzeitig einen Termin zu machen, stellt Ihnen aber niemand eineN DolmetscherIn für den Anwaltstermin. Wenn Sie es geschafft haben, jemanden zum Übersetzen zu finden, müssen Sie schließlich noch von dem wenigen Geld, das Sie haben, den Weg zur Kanzlei finanzieren. Selbstverständlich nur, wenn Sie nicht inzwischen abgeschoben wurden.

Das Ziel, die Asylverfahren deutlich schneller zu entscheiden, führt dazu, dass niemand in der Unterkunft die Zeit hat, für eine Anzahlung für RechtsanwältInnen zu sparen. Theoretisch müsste bereits bei der Ankunft in Deutschland ein provisorischer Termin in einer Kanzlei gemacht werden.